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Vom Käsen zur Demokratisierung

Seit 50 Jahren ist Helvetas in Bhutan tätig. Nun heisst es Abschied nehmen: 2026 übernimmt eine lokale Organisation die Verantwortung; sie bleibt aber eng mit Helvetas verbunden.
TEXT: Patrick Rohr - 14. Mai 2024
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«Hast du ihn?» Yeshi Choden schaut über die Schulter, wo Gyem Phurba das andere Ende des gefällten und bereits zu Balken zersägten Baumstamms anhebt. «Ja!», ruft er, und dann tragen die beiden das lange Holzstück vorsichtig aus dem Wald hinaus auf die Forststrasse. Yeshi ist Kassiererin und Gyem Präsident der Waldgemeinschaft von Ugyen Choling zuhinterst im Tang Tal, gelegen auf rund 3000 Metern über Meer im Bumthang Distrikt.

Die Waldgemeinschaft gibt es seit über 20 Jahren, alle 23 Haushalte des Dorfes sind ihr angeschlossen. Organisiert ist sie nach demokratischen Strukturen, ähnlich wie eine Genossenschaft in der Schweiz. 104 Bäume darf sie jedes Jahr fällen. Das Holz ist zunächst für die Mitglieder bestimmt, die damit zum Beispiel ihre Häuser reparieren. Wenn am Schluss Bäume übrigbleiben, werden diese verkauft. Das Geld fliesst in die Gemeinschaftskasse, aus der die Mitglieder einen Kredit beziehen können, zum Beispiel für Schulgeld oder um eine Beerdigung zu bezahlen. Alle paar Jahre wird der Gewinn aus der Kasse an die Mitglieder verteilt. «Seit wir als Dorfgemeinschaft die Verantwortung für den Wald übernommen haben, gibt es keine Probleme mehr mit unerlaubtem Holzschlag», sagt Gyem, der Präsident.

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Yeshi Choden und Gyem Phurba sind Teil der Waldgemeinschaft ihres Dorfes. Über die Verwendung des Gewinns entscheiden die Mitglieder gemeinsam. © Patrick Rohr

Helvetas hatte Bhutan dabei unterstützt, erste Waldgemeinschaften zu gründen – erfolgreich. Als sie 1993 institutionalisiert werden sollten – finanziert von der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) und der Weltbank – galt es jedoch, Hürden zu überwinden: «Die Anfänge waren sehr schwierig», erinnert sich KJ Temphel, ein Forstingenieur, der das Pilotprojekt geleitet hatte. «Obwohl die Regierung den Waldvereinigungen die Verantwortung übertragen wollte, vertrauten uns die regionalen Behörden nicht. Bhutan hatte damals aber auch noch keine Erfahrung mit Demokratie.»

«Seit wir als Dorfgemeinschaft die Verantwortung für den Wald übernommen haben, gibt es keine Probleme mehr mit unerlaubtem Holzschlag.»

Gyem Phurba, Präsident der Waldgemeinschaft von Ugyen Choling

Ein König schafft die Monarchie ab

Die Demokratie wurde erst 2008 eingeführt, und zwar auf Wunsch von Jigme Singye Wangchuck, dem vierten König von Bhutan, einem Land, das 1907 zur Monarchie geworden war. Das Volk allerdings wollte von Demokratie gar nichts wissen; es vertraute seinem König und verehrte ihn. Doch der Regent war der Meinung, dass es langfristig besser sei, die Macht aufzuteilen. So kündigte er 2006 die ersten freien Wahlen an und gab gleichzeitig, mit erst etwas über 50 Jahren, seinen Rücktritt bekannt: Sein damals 26-jähriger Sohn Jigme Khesar Namgyel Wangchuck sollte das Land in die demokratische Zukunft führen.

«Das war der Moment, in dem wir unsere Prioritäten neu setzten», sagt Tashi Pem, die 2003 als Projektkoordinatorin zu Helvetas kam und seit 2017 das Landesprogramm als Direktorin leitet. «Anfangs lag der Schwerpunkt auf Bildung, Infrastruktur, Land- und Forstwirtschaft», erinnert sie sich. Heute hätten praktisch alle Projekte direkt oder indirekt mit der Demokratisierung zu tun. So unterstützt Helvetas die Regierung zum Beispiel bei der Dezentralisierung der Aufgaben. Ein Prozess, der bereits seit Ende der 1980er Jahre im Gange, aber noch lange nicht abgeschlossen ist: Zuerst wurde ein Teil der behördlichen Aufgaben, die früher zentral von der Hauptstadt Thimphu aus verwaltet wurden, an die 20 Dzongkhags, vergleichbar mit den Kantonen in der Schweiz, übertragen. Später wurden weitere Aufgaben an die nächsttiefere Verwaltungsstufe delegiert, die 205 Gewogs, vergleichbar mit Verwaltungskreisen, und schliesslich an die Gemeinden. 

«Eine solche Transformation passiert nicht von heute auf morgen», sagt Tashi Pem. «Einerseits muss zuerst klar sein, wer welche Aufgaben übernimmt – Bildung, Justiz, Polizei und so weiter. Und dann müssen sowohl die Kompetenzen und Verantwortlichkeiten, als auch die Mitbestimmungsrechte der Bürgerinnen und Bürger klar geregelt werden. Das ist ein sehr komplexer Prozess, bei dem wir von Helvetas die Behörden unterstützen. Die Erfahrung der Schweiz mit der Demokratie hilft uns dabei natürlich.»

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Der fünfte König von Bhutan führt den Modernisierungskurs seines Vaters und Grossvaters weiter. Er ist überall präsent wie hier im Haa-Tal. © Patrick Rohr

Von der Frau des Königs zum Schweizer Käser

Dass Helvetas eine wichtige Beraterin für das kleine Königreich am Himalaja wurde und bis heute wegweisende Projekte durchführt, ist einer Freundschaft in den 1940er Jahren zu verdanken. Damals lernte Lisina, Tochter des Schweizer Industriellenpaars Fritz und Monica von Schulthess, in einem Internat in London eine Bhutanerin kennen, die später die Frau des dritten Königs werden sollte. 1952 wurde die Familie von Schulthess vom frisch gekrönten Königspaar nach Bhutan eingeladen.

Strassen gab es zu dieser Zeit in Bhutan noch nicht, auch keine Elektrizität oder andere Errungenschaften, von denen andere Länder schon länger profitierten. Doch der König wollte sein Land in die Moderne führen, und er bat den Schweizer Industriellen, ihn dabei zu unterstützen, zum Beispiel mit Fachleuten aus der Schweiz, die Bhutan beraten würden. Es war der Beginn der Entwicklungszusammenarbeit der Schweiz mit Bhutan.

Eine der Fachpersonen, die Fritz von Schulthess vermittelte, ist der Berner Fritz Maurer. Dieser meldete sich 1969 auf ein Zeitungsinserat in der Schweiz, in dem ein Käser gesucht wurde, der für ein Jahr nach Bhutan gehen würde – ins entlegene Gogona auf 3000 Metern über Meer. Mittlerweile wohnt der 80-Jährige seit 54 Jahren in Bhutan und ist bhutanischer Staatsbürger. Fritz Maurer hat die Entwicklung des Landes hautnah miterlebt und auch mitgeprägt.

Berufsbildung

Bis in die 1950er Jahre wurden Kinder ausschliesslich in buddhistischen Klöstern unterricht, später von indischen Lehrpersonen. Eine der ersten Initiativen von Helvetas Bhutan war die Ausbildung einheimischer Lehrkräfte. Doch in Bhutan ist die Schule auf universitäre Bildung ausgerichtet, Handwerksberufe haben ein tiefes Ansehen; sie werden von Migrant:innen aus Bangladesch, Indien und Nepal erledigt. Viele Studierte finden keine Stelle, weil ihr Profil nicht den Anforderungen des Arbeitsmarkts entspricht. Die Jugendarbeitslosigkeit beträgt 27%, viele wandern nach Kanada und Australien aus. Ein gewaltiger Verlust an Arbeitskraft und Wissen, während es im Land an Sanitärinstallateuren und Schreinerinnen mangelt. Dem hat Helvetas entgegengewirkt: Am Chumey Technical Training Institute werden junge Frauen und Männer in einem guten Jahr zu Spengler:innen oder Möbelschreiner:innen ausgebildet – in einem dualen System nach Schweizer Vorbild, wo ihnen das technische Basiswissen vermittelt wird und sie praktische Erfahrung in einem Betrieb sammeln können. Zahlreiche Ausbildungsinstitute haben dieses duale Bildungssystem übernommen.

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Sanitärinstallateur:innen in Ausbildung. Bhutan braucht dringend handwerkliche Fachkräfte. © Patrick Rohr

Zusammenarbeit wird intensiver

«Es fing an mit Käsen, wurde dann aber schnell mehr», erinnert er sich. Bald schon realisierten die Einheimischen, dass der gelernte Käser auch über die Landwirtschaft, den Futteranbau und die Viehzucht Bescheid weiss. So wurden ihm immer neue Aufgaben zugetragen, und weil er diese bald nicht mehr alleine bewältigen konnte, holte er Verstärkung aus der Heimat. Und mit dieser kamen neue Kenntnisse: So versorgte etwa die Frau eines Schweizers als gelernte Pflegefachfrau in einem improvisierten Sanitätsposten die lokale Bevölkerung. 

Dem König blieben die Erfolge der kleinen Schweizer Gruppe nicht verborgen, weshalb er vorschlug, die verschiedenen Aktivitäten auf das damals sehr arme Bumthang auszuweiten. Fritz Maurer und seine Mitstreiter:innen zogen nach und nach um und führten etwa die Bienenzucht oder die Forstwirtschaft nach Schweizer Vorbild ein.

Medien und Medienkompetenz

Als Bhutan die Demokratie einführte, wurden private Radiostationen und elf Tageszeitungen gegründet. Davor gab es nur die in den 1950er Jahren aufgebaute regierungsnahe «Kuensel», und seit 1999 ein staatliches Fernsehen und das Internet. Jetzt gibt es noch sieben Zeitungen, die – ausser «Kuensel» – wöchentlich und nur noch in kleinem Umfang erscheinen. Die Redaktionen sind von einst 60, 70 Mitgliedern auf drei bis fünf geschrumpft. Heute informieren sich die Menschen über die sozialen Medien, sagt Needrup Zangpo, Direktor der Bhutan Media Foundation (BMF), einer Partnerorganisation von Helvetas. Die Stiftung bildet Journalist:innen aus und vermittelt landesweit Medienkompetenz, denn die Informationsbeschaffung über die sozialen Medien birgt auch in Bhutan viele Risiken, wie einseitige Information, Falschinformation und Aufrufe zu Gewalt. «Das ist gefährlich; unabhängige Medien sind das Fundament einer funktionierenden Demokratie», sagt Needrup Zangpo. Die BMF organisiert auch Konferenzen, an denen sich Journalisten, Diplomatinnen, sowie Vertreter:innen von Regierung und Zivilgesellschaft austauschen, etwa zum Thema Künstliche Intelligenz.

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Chefredaktor Jigme Wangchuk prüft die jüngste Ausgabe seiner Zeitung © Patrick Rohr

Viele kleine Schritte zur Übergabe in lokale Hände

1975 beschloss Fritz von Schulthess, die immer zahlreicher werdenden Aktivitäten, die er inzwischen in einer Stiftung zusammengefasst hatte, einer professionellen Organisation zu übergeben. Er entschied sich für Helvetas, die im benachbarten Nepal schon seit 1956 tätig war. In der Folge wurden einige Projekte weiterentwickelt, wie zum Beispiel der Sanitätsposten, der zum Spital wurde. Andere kamen neu dazu, wie der Aufbau von Schulen und die Ausbildung von einheimischen Lehrpersonen. Einige Projekte wie die Käserei in Bumthang wurden privatisiert oder in die Verantwortung der Gemeinden übergeben, wie zum Beispiel die kommunalen Waldgruppen.

Heute gibt es im ganzen Land über 600 solcher Gruppen wie diejenige von Yeshi und Gyem im Tang-Tal; in jeder wird Demokratie im Kleinformat gelebt. Mit ihren Strukturen sind sie ein wichtiger Pfeiler der mit etwas mehr als 15 Jahren immer noch sehr jungen Demokratie in Bhutan, dem Land, dessen Verfassung festhält, dass 60 Prozent seiner Fläche waldbedeckt bleiben muss, und das den Wald als Teil seines Bruttonationalglücks versteht. Wohl auch dank eines weitsichtigen Königs, der gegen den Willen seiner Bevölkerung einst die Demokratie einführte.

Und Helvetas? Angesichts der vielversprechenden Entwicklungen in Bhutan, übergibt Helvetas die Verantwortung für laufende und künftige Projekte bald der lokalen Organisation LEAD+. LEAD+ wird derzeit von Tashi Pem und dem bestehenden Helvetas-Team in Bhutan aufgebaut. Ihre Arbeit wird auf dem Know-how und den reichen Erfahrungen aus 50 Jahren Entwicklungszusammenarbeit gründen und mit Helvetas eng verbunden bleiben. Das macht Landesdirektorin Tashi Pem etwas wehmütig, «nostalgisch», wie sie sagt. «Es ist aber auch eine logische Folge der gewaltigen Entwicklung, die unser Land in den letzten Jahrzehnten gemacht hat.»

Nachhaltiger Tourismus

Tourismus gibt es in Bhutan erst seit den 1970er Jahren. Um Massentourismus zu verhindern und Natur und Kultur zu schützen, wurde bis zur Pandemie mit einer Tagespauschale von 250 US Dollar die Zahl der Tourist:innen gesteuert. Mittlerweile beträgt die Pauschale noch 100 US Dollar für eine nachhaltige Tourismusentwicklung. Hinzu kommen Kosten, die früher mit der höheren Pauschale abgedeckt worden waren, etwa für Hotels und die obligatorische Reiseleitung. Helvetas engagiert sich in Bhutan neu auch für den nachhaltigen Tourismus: Im Haa-Tal ganz im Westen des Landes unterstützt die Organisation ein Besucherzentrum, das von jungen Menschen aus dem Tal betrieben wird. In Workshops lernen beispielsweise Anbietende von sogenannten «Home Stay»-Übernachtungen, meistens Bäuer:innen, wie sie für Gäste aus anderen Kulturen kochen und sich auch ohne gemeinsame Sprache mit ihnen unterhalten können. Haa soll so zur Tourismusdestination werden, die allen zugutekommt: der Landbevölkerung, den Gemeinden, aber auch den Reisenden.

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Home Stay im Haa-Tal: Ein Helvetas Projekt vermittelt den Gastfamilien das nötige Wissen, um Reisende zu beherbergen. © Patrick Rohr